Leserbrief: Warm im Bauch mit bitterem Nachgeschmack
Ich möchte von einer ähnlichen Situation wie in dem Leserbrief „Ein Einsatz wie jeder andere?“ erzählen.
Eine ähnliche Situation, ja, doch mit völlig anderem Ausgang. Ich will dazu bemerken, dass ich zum Zeitpunkt des Einsatzes gerade mein Streifendienstpraktikum absolvierte, also erst im zweiten Jahr meines Studiums, ergo auch noch nicht so lange dabei war.Uns erreichte gegen Abend kurz vor Schichtende ein nahezu gleicher Einsatz: Die Nachbarn machen sich Sorgen, da sie die ältere Frau, die dort nun alleine in dem Haus wohnt, länger nicht mehr gesehen haben. Schon auf der Hinfahrt macht man sich Gedanken, ein flaues, nagendes Gefühl im Magen.
Wie oft kommt man am Einsatzort an und findet nur noch einen toten Menschen? Man hat genug von diesen Einsätzen gelesen, gehört, sie mit Kollegen oder im Unterricht besprochen. Wie verhält man sich, wenn man vor dem Leichnam eines Menschen steht? Vor allem, wenn es der erste ist?
Professionell, so hofft man zumindest. All diese Gedanken werden beiseite geschoben, als wir am Einsatzort ankommen. Für Zweifel und Zaudern ist das weder die Zeit noch der Job.
Es handelt sich um ein kleines, mehrstöckiges Haus mit einem ebenso kleinen Garten in einem kleinen Dorf. Die Sorte, wo jeder noch jeden kennen sollte. Nett sieht es hier aus. Ein wenig, wie man sich das bei Oma vorstellt. Die Nachbarn wohnen keine zehn Meter entfernt. Von ihnen werden wir auch begrüßt, als wir aus dem Streifenwagen steigen.
Eine junge Frau von rechts nebenan, eine rüstige, alte Dame von links, beide unterhalten sich mit sorgenvollen Mienen. Sie erklären uns kurz die Situation. Der vermutlich hilflosen Dame sei vor kurzem der Ehemann verstorben, seither lebe sie allein. Sie habe zwar einen Sohn, dieser wohne jedoch weit weg und käme nicht oft zu Besuch.
Die junge Frau von rechts erklärte, dass sie Krankenpflegerin sei, ihr Mann Arzt. Deshalb hätten sie beide angefangen, auf die Gewohnheiten der Dame aus der Mitte zu achten, seit diese allein wohne.
Pünktlicher als eine Stechuhr soll sie gewesen sein. Jeden Morgen habe sie ihr Fenster zu exakt der gleichen Zeit für exakt die gleiche Zeit zum Lüften geöffnet. Jeden Abend zur gleichen Zeit hätten sie den Fernseher mit eingeschaltetem Wohnzimmerlicht durch das Fenster laufen sehen. Und die Zeitung habe sie auch immer zur gleichen Zeit herein geholt.
Seit mehr als einem Tag stünde das Fenster jetzt aber offen, der Fernseher sei die Nächte im dunklen Zimmer durchgelaufen, der Briefkasten quoll über. Wir hörten uns alles an, nickten, stellten Nachfragen; das flaue Gefühl im Bauch war wieder da.
Wir baten die beiden Nachbarinnen an der Straße zu warten oder in ihre Häuser zurückzukehren und gingen zur Haustür. Klopfen, Klingeln, nichts regte sich. Alles blieb erwarteter Weise still. Wir versuchten, die Kellertür zu öffnen. Ohne Erfolg. Weiter ging es ums Haus, auch die Terrassentür war verschlossen, im ersten Stock stand ein Fenster offen.
Zu hoch, um ohne Hilfe ranzukommen, auch wenn mein Kollege zugegebenermaßen ziemlich groß ist. Der Herr Nachbar von links meinte, es habe mal einen Ersatzschlüssel in dem Verschlag im Garten gegeben. Im Taschenlampenlicht fand ich Spinnenweben, Gartengeräte, Sand, noch mehr Spinnenweben… aber keinen Schlüssel.
Es käme regelmäßig ein Gärtner, da die Dame den Garten selber nicht mehr schaffte, so sagten die Nachbarn. Bar weiterer Möglichkeiten, selbst ins Haus zu kommen, ohne etwas kaputt zu machen, riefen wir die Feuerwehr. Im Schlepptau kam gleich ein RTW mit. Sie würden immer mitkommen, wenn die Ffw zu einer Wohnungsöffnung gerufen werde. Neu für uns, aber positiv überrascht.
Nachdem sich der Löschzug in die, zugegeben, eher schmale Straße gequetscht hatte und die Kameraden auf die Straße schwärmten, ging es dann doch ganz fix. Leiter ran an die Hauswand, einer der Kameraden hochgeklettert, das gekippte Fenster nach innen abgelegt und er war verschwunden.
Ich starrte noch kurz mit offenem Mund, ein wenig überwältig von der schieren Menge an Feuerwehrleuten und Blaulicht und folgte dann meinem Kollegen zur Haustür. Dort wartete neben den RTWisten Herr Dr. Nachbar von rechts. Er sei Notarzt und könne helfen, sagte er. Die RTWisten hat’s gefreut… denke ich. Jetzt hieß es warten.
Inzwischen war es dunkelt geworden. Licht ging im Haus an. Erst blieb es kurz still, dann konnten wir die schweren Stiefel des Kameraden die Treppe herunterpoltern hören.
Noch einmal kurze Stille, dann öffnete er die Haustür und nuschelte im Vorbeigehen so etwas wie: “Eine Person, weiblich, ansprechbar.”
Mein Kollege und ich wechselten einen verblüfften Blick, während sich einige Feuerwehrleute, das Rettungsteam und Herr Dr. Nachbar von rechts durch die kleine Haustür in das enge Holztreppenhaus nach oben drängten. Hatte er gerade tatsächlich ansprechbar gesagt?
Wir warteten, bis das Gedränge im Treppenhaus etwas nachgelassen hatte. Wirklich helfen konnten wir im Moment eh nicht. Schließlich folgten wir in den ersten Stock und riskierten einen kurzen Blick ins Wohnzimmer, dem Menschenauflauf nach das Zimmer, wo die Dame lag.
Es war typischerweise so eingerichtet, wie man es von älteren Leuten halt kennt. Nichts Ungewöhnliches oder Eigenartiges. Direkt neben der Tür standen zwei Katzennäpfe. Beide leer. Die Dame selbst lag vor ihrem Sessel auf dem Boden, sie war gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen.
Der Fernseher lief noch, der Wetterbericht flimmerte über die Mattscheibe. Es würde kalt werden, die Nacht. Durchdringender Uringeruch erinnerte daran, dass die Dame seit mehr als 24 Stunden dort hilflos auf dem Boden gelegen hatte. Sie konnte kaum sprechen, so ausgedörrt schien sie zu sein.
Wir ließen die RTWisten und Herrn Dr. Nachbar von rechts ihre Arbeit machen und gingen in das angrenzende Schlafzimmer. Hier war der Kamerad durch das Fenster ins Haus gestiegen. Das Fenster selbst lag noch so, wie er es hinterlassen hat. Auch das Schlafzimmer war ordentlich aufgeräumt, das Bett gemacht, alles an seinem Platz.
Nachdem wir das Fenster geschlossen hatten, gingen wir wieder hinunter ins Erdgeschoss. Jetzt hieß es, Personaldokumente suchen. Mit Glück würden wir vielleicht auch die Krankenkassenkarte der Dame finden. Haben wir nicht, aber immerhin war da eine Art Krankenausweis in ihrer Handtasche, von der wir die nötigen Daten abschreiben konnten.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr kam auf uns zu. Man verständigte sich, einigte sich, bedankte sich für die Hilfe. Ein nettes Tschüss und der gesamte Löschzug popelte sich irgendwie wieder aus dem Gässchen heraus.
Gut, nicht der Ganze. Ein Mannschaftswagen blieb, um zu helfen, die Dame – in so einer Sitztrage wohlgemerkt – die enge Treppe herunter und in den RTW zu tragen. Vier Kameraden, vier Ecken und die RTWisten und Dr. Nachbar von rechts wuselten hinterher.
Nach dem ganzen Trubel schien es jetzt auf einmal fast ruhig in der Straße, so ganz ohne Feuerwehrfahrzeuge und flackernde Blaulichter. Nur der RTW und unser einsamer Streifenwagen blieben noch.
Wir versuchten kurz am RTW mit der Dame, mit Hilfe von Herrn Dr. Nachbar von rechts zu reden. Sie war noch kaum in der Lage einen zusammenhängenden Satz rauszubringen. Von dem, was man verstehen konnte, sorgte sie sich um ihre Katze. Die haben doch Diabetes und müsse deswegen immer viel trinken.
Auf die Frage, ob wir jemanden verständigen sollten, erzählte sie uns umständlich von ihrem Sohn. Es gebe eine Telefonnummer, sie habe sie aufgeschrieben. Wir beruhigten sie, wir würden uns kümmern. Herr Dr. Nachbar von rechts dankte uns und verabschiedete sich mit dem RTW in Richtung Krankenhaus.
Für uns ging es erneut ins Haus. In ihrer Handtasche hatte ich ein Adressbuch gefunden. Darin war auch eine Telefonnummer von einem Herren, der dem Namen nach ihr Sohn zu sein schien. Schließlich holten wir die Katzennäpfe von oben, füllten einen mit Wasser, den anderen mit Trockenfutter und stellten sie auf die Kellertreppe. Die junge Frau Nachbarin von rechts versprach, hin und wieder nach dem Tier zu sehen.
Jetzt blieb nur noch Tür abschließen, sich bei der erleichterten, wenn auch vor Kälte bibbernden, Frau Nachbarin von rechts zu verabschieden und rein in den Streifenwagen, gen heimische Wache. Schnell noch die Abmeldung an die Leitzentrale, dann war es still im Wagen.
Ich hing meinen Gedanken nach, mein Kollege – deutlich diensterfahrener als ich – ließ mir Zeit. Schließlich redeten wir über den Einsatz. Wir waren beide mit der Erwartung in den Einsatz gegangen, eine Tote vorzufinden und es war für uns beide ein wirklich schönes Gefühl, einen von hundert Fällen erwischt zu haben, wo „hilflose Person in Wohnung“ nicht tödlich ausgegangen ist.
Wo man das Gefühl hat, man konnte helfen, was bewegen. Man hechelt nicht nur hinterher. Oft genug hat er es schon anders erlebt, erzählt mein Kollege. Selbst auf einer Dorfdienststelle, wie unsere eine ist. Oder vielleicht, gerade deswegen.
Und wie gut ist es, zu sehen, dass Menschen aufeinander achten, auf schwächere aufpassen und mal über den eigenen Tellerrand schauen. Vor allem in einem Beruf wie unserem, wo man mehr als genug das Gegenteil sieht.
Der bittere Nachgeschmack, der sich wie ein Tritt in die Magengegend anfühlte, sollte dann auf der Dienststelle kommen: Anruf Sohn der alten Dame. Mein Kollege erklärt ihm, dass er sich nicht erschrecken soll, dass es um seine Mutter ginge.
Ich sitze daneben, höre zu und traue meinen Ohren nicht, als der Mann am anderen Ende der Leitung meinen Kollegen in der Erklärung unterbricht:
„Ach, ist sie schon wieder besoffen?“
Ich beiße meine Zähne zusammen und höre bewundernd meinen Kollegen ruhig und besonnen das Nötige antworten. Seine Beherrschung möchte ich haben. Schließlich legt er auf.
Wir sehen uns an, denken dasselbe, schütteln den Kopf. Es fehlen die Worte.
Die Wut im Bauch brodelt nach Schichtende auf dem Weg nach Hause immer noch.
Die uns bekannte Autorin möchte anonym bleiben.